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«Industriearchitektur ‹Braun›»
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«Industriearchitektur ‹Melitta›»
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«Industriearchitektur ‹SCA 300›»
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«Industriearchitektur ‹Trüb›»

Zur «Industriearchitektur» von Corinne Sauder

 

Malewitschs «schwarzes Quadrat» (wie auch die bilder Mondrians) entstand auf dem Hintergrund theosophischer Ideen und steht dem geometrischen Quadrat konträr gegenüber. Es ist eben kein (geometrisches) Quadrat, aber auch keine theosophische Illustration. Beides,Theosophie und geometrie, sind theoretische Konstrukte und als solche keine künstlerischen faktoren, sie können höchstens Kunst anregen oder beeinflussen. Es liegt der Verdacht nahe, dass Malewitsch (wie auch andere Künstler der Zeit – und nicht nur Künstler) mit seiner Kunst die Welt verbessern wollte. Das nun wollen die heutigen Künstler nicht, sie lassen die Welt wie sie ist und bedienen sich ihrer, ohne ihren Zustand moralisierend zu beurteilen, aber nicht, ohne ihn zu analysieren. Die Künstler geben sich nicht mehr als die genialen erfinder und Schöpfer «kleiner Welten». sie beschäftigen sich mit dieser Welt, mit ihren Realitäten und Erscheinungen, setzen sie in Kunst um, aber nicht als impressionistisches Abbild, sondern als autonome Erscheinung.
«Der Schein trügt.» (Volksmund) «Nichts trügt weniger als der Schein.» (Max Liebermann) «Nur der Schein trügt nicht.» (Josef Albers)
Corinne Sauder lebt und arbeitet seit gut einem Jahr in einem Atelier im 18. Arrondissement in Paris, dort, wo die Stadt «lebt», wo sie nicht das internationale Gesicht des saturierten, neureichen Bürgertums den gelangweilten Touristen zukehrt – will sagen, zwischen Schwarzen, Arabern, Chinesen und Parisern der entsprechenden Schicht und in unmittelbarer Nähe von Industrieanlagen, deren Produktivität nicht unbedingt dem neuesten Stand entspricht. Die täglichen Notwendigkeiten wenden sich hier ungeniert nach aussen, auf die Strassen und Plätze, und es wäre falsch, wollte man von Schmutz, und ebenso falsch, wollte man von «malerisch» sprechen. Hier entstanden in den fünfziger Jahren die Décollagen (Plakatabrisse) der französischen «Nouveaux Réalistes» Hains, Villeglé, Dufrêne und Rotella, die wir heute in unübertroffener, klassischer Bildästhetik wahrnehmen.
Die vermeindliche Nicht-Ästhetik der heutigen Kunst ist sowieso ein Trugschluss: Alles Artifizielle zeigt sich und eröffnet sich uns erst unter dem Aspekt des Ästhetischen. Und in der Umkehrung wird auch die reale Welt zum ästhetischen Objekt; man kann die Landschaften um Arles, St. Rémy oder Auvers nur auf dem «Umweg» über die Bilder van Goghs betrachten, ohne sie fehlt der kulturelle Bezug, ist die Sicht fragmentarisch.
Auf diesen umgekehrten Weg verweist uns in der heutigen Kunst vielleicht am ehesten die Plastik, besser das Objekt oder die Installation. In den Installationen, dem zentralen Arbeitsgebiet der Künstlerin, arbeiten die Künstler mit vorgefundenen Materialien, mit den Überschüssen und Abfällen der industriellen Produktion, die man nicht «abmalen», sondern nur «benützen» kann. Zum Beispiel Verpackungsmaterial, das das wahrhaftige Massenprodukt unserer Zeit ist. Gigantische Berge von Faltschachteln versperren tagtäglich die Pariser Gehsteige, bevor sie nachts abgeräumt werden. Faltschachteln bilden, während sie ihre Funktion erfüllen, Kuben und Quader, entfaltet man sie und führt ihre Form auf den Stanzling, auf ihre zweite Dimension zurück, nehmen sie plötzlich ungeahnte, fremde formen an, können sie zu Kunst werden. Corinne Sauder geht noch einen Schritt weiter, transformiert sie in Malerei auf Papier oder übersetzt sie ins drucktechnische Medium Linol, verfertigt also Bilder, «Alltagsbilder», wie sie sagt. Die Art ihrer Realisierung – nicht über die professionelle Verarbeitung der Materialien – ist übrigens nicht relevant. Diese Art von Kunst mit der ihr eigenen Ästhetik hat viel mit Aufarbeitung kultureller Erinnerung zu tun, deren Umfang rasch wächst und die wir nicht mehr loswerden. Form muss nicht mehr geschaffen werden – das «schwarze Quadrat» war die letzte und zugleich die erste –, Formen sind (im Bereich der industriellen produktion) zahllose vorhanden, die künstlerische Intention liegt im Wahrnehmen und im transformieren. Aus Alltagsgegenständen werden «Alltagsbilder», jene sind allgemeingut, diese jedoch mit Sicherheit nicht. Die kulturelle Aneignung der Kunst bleibt für den Rezipienten eine anstrengende arbeit, wie populär auch immer ihr Ursprung ist.
Mit Ziffern bezeichnet man Dnge. Zahlen erleichtern das Zählen. Schrift dient der Entwicklung, aber auch der Unterdrückung. «Es wird überprüft, geordnet: ein alltäglicher prozess. es wird misstrauen erhoben. Die Massangaben stehen für unsere vermessene Welt. Unser denken richtet sich oft nur noch auf Daten …», sagt die Künstlerin. Die Massangaben sind weder fiktiv noch wären sie unbedingt nötig für das Erfassen der Bilder. Sie stehen aber da und tun ihre Wirkung. «Wir brauchen Masse (Maße!), Masseinheiten.» Und Tabellen, Tabellen zum erfassen, Tabellen zum Vergleichen. Alles unproduktive Tätigkeiten, reine Kontrollinstrumente? Das Künstleratelier als pseudoregistratives Kontor. Kunst als höhnische Verlästerung des Sysyphus. – Aber auch: Kunstwerke als formal und farblich äusserst fein gearbeitete ästhetische Gegenstände, die Alltag reflektieren und überhöhen.

 

Hans Rudolf Bosshard

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