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«Während das Haus die Hülle für die Gemeinschaft bildet, stellt das Kleid das ‹Gehäuse› für das Individuum dar. (…) Farbe, Muster, Stoffbeschaffenheit und Schnitt, soweit sie gesellschaftlich konotierte Zeichen und Symbole darstellen, dienen der nonverbalen Kommunikation. Sie weisen auf Geschlecht, Alter, Rang, Stand, Beruf, Religion sowie die regionale Herkunft des Trägers hin. (…) Eine besondere Formenvielfalt weisen die Kopfbedeckungen auf. Zum Schutz vor Regen und Sonne werden in Ost asien riesige Strohhüte getragen; gegen Frost bei den Eskimo und Samen Kapuzen und Mützen aus Fell oder Stoff; gegen Hitze und Sandsturm verhüllende Turbane und Gesichtsschleier wie bei den Tuareg. (…) Das Schuhwerk wurde in Stiefel und Sandalen unterteilt, letztere wieder in Schnürsandalen, Zehenriemen-Sandalen und Holzsandalen mit Zehenzapfen.»
Diese Auszüge aus einem Artikel über Kleidung von Heide Nixdorf, Professorin für Kulturgeschichte der Textilien in Dortmund stellen eine Einführung in die Form, Funktion und Bedeutung von Bekleidung dar. Die 1949 geborene Künstlerin Anne Büssow spielt bzw. arbeitet in ihren Holzschnitten in der XYLON-Zeitschrift 2007 mit diesen Bekleidungscodes der Kulturen.
Das Deckblatt der Mappe ist mit einer Art Etikett versehen. Zwischen formaler Abstraktion und Definition lässt sich eine Komposition aus Kopfbedeckungen erahnen. Beim ersten Durchblättern entdeckt der Betrachter bekannte und unbekannte Bekleidungsformen und versucht sie zeitlich sowie kulturell einzuordnen. Er nimmt verschiedenste Arten von Schuhen, von Kopfbedeckungen und mantelartige Kleidungsstücke wahr. Dazu kommen diverse Accessoires wie z.B. Zierkrägen oder eine Kette. An ein paar dieser Bekleidungsformen sind auffällige Laschen angesetzt, die an ein Kinderspielzeug erinnern: an Ankleidepuppen aus Papier. Eine mit zeitgemäßer Unterwäsche bekleidete Papierpuppe in Jungen- oder Mädchengestalt wurde als Lithographie oft farbig auf einen festeren Karton gedruckt und war zum Ausschneiden gedacht. Zu dieser Puppe gab es diverse Kleidungsstücke, ebenfalls aus Papier, die mit Laschen versehen waren, um sie an der Puppe durch umknicken derselben befestigen zu können. Diese Kleidchen wurden durch die dazugehörigen Accessoires, welche die verschiedenen Aktivitäten der Kinder darstellten zu einem Gesamtbild von kindlicher Tugend der Zeit ergänzt. Von Hütchen, Püppchen und Blumensträußchen bis Uniförmchen, Steckenpferdchen und Segelschiffchen fand sich alles.
Diese Papierpuppen erfreuten sich zwischen 1895 und 1920 vor allem in den USA großer Beliebtheit. Sie wurden für eine breite Produktpalette als Werbeträger eingesetzt. Man fand sie nicht nur als Werbegeschenke von Bekleidungsherstellern sondern auch bei Süßigkeiten, Ofenpolitur, Schuhen, Haferflocken, Mehl, Nähmaschinen, Medikamenten, Zahnpasta, etc. Die Puppenmotive wurden meist als zweidimensional agierendes Püppchen nur vorne bedruckt. Auf der Rückseite wurde dann später der Werbespruch der jeweiligen Firmen angebracht.
Die Motive dieser «Advertising Paper Dolls» wurden so gewählt, dass die Kinder zum Sammeln angeregt werden sollten. Man konnte z.B. Puppen in den typischen Outfits verschiedener Colleges, Mädchen aus unterschiedlichen Ländern in der jeweiligen Tracht oder zu einer Puppe weitere verschiedenfarbige Kleidchen sammeln.
Ausgehend von dem Muster dieser Kinderspielzeuge und Werbeträger entwickelt Anne Büssow auf den Papierbögen der XYLON-Zeitschrift ähnliche Zusammenstellungen. Sie ordnet in jedem der vier doppelseitigen Blätter je ein langes, mantelähnliches Kleidungsstück mit diversen Accessoires an. Diese weisen jedoch nicht immer eine inhaltliche Zusammengehörigkeit auf, d.h. die dargestellten Kleidungsstücke können sowohl zeitlich als auch räumlich getrennt in unterschiedlichen Kulturen der Welt existieren. Außerdem fehlt die Puppe, das Individuum zum Bekleiden. Hier kann sich der Betrachter im besten Falle selbst einsetzen und sich mit den Kleidern in die verschiedenen Rollen einfühlen, die den Kleidungsstücken anhaften.
Die Formen der Kleidungsstücke erscheinen in den Holzschnitten von Anne Büssow durch zeichenhafte Verknappung fremd. Sie stehen als einzigartige Zeichen, die sich in schwarze und weiße Flächen gliedern, auf der Bildfläche. Größere, streng schwarze Flächen werden zum Teil durch zarte, asiatisch anmutende Wellenmusterungen aufgelockert, außerdem bringt auch die bewusst eingesetzte Holzmaserung Struktur in die geschlossenen Flächen. Das grafische Schwarz-Weiß bildet einen entscheidenden Kontrast zu den bonbonfarbigen Anziehpuppen der Jahrhundertwende. Dies hier ist kein Kinderspielzeug. Hier stellt die Künstlerin dem Betrachter frei nach Gottfried Keller die Frage: Wenn Kleider Leute machen, welche Kleider «machen» dann welche Menschen dieser Erde?
Die Künstlerin, nach Inspirationsquellen befragt, benennt u.a. nachgedruckte Versandhauskataloge der 30er Jahre aus den USA, Kleidung und Meditationswerkzeuge der Zenbuddhisten, die Kelten und Papua Neuguinea. Sie schöpft demnach Formen aus der umfassenden Kleiderkiste der Welt, die sie in ihren Holzschnittblättern nach einer kulturell unabhängigen Harmonie zu neuen Bildern komponiert.
So kommt ein aus Gold getriebener keltischer Kalenderhut der ausgehenden Bronzezeit neben der Kittelschürze einer deutschen Hausfrau des 20. Jahrhunderts zu stehen. Neben dem kimonoartigen Gewand eines Zenbuddhisten findet sich ein Rüschenkragen der 1920er Jahre. Neben einem kistenartig eingegrenzten Gewand ist ein weiterer Kragen mit berüschter Knopfleiste und ein Badeanzug angeordnet. Und neben einer eberzahnbewehrten Kopfbedeckung aus Papua Neuguinea findet sich ein formal interessantes Gerät wohl aus Plastik zum Befestigen einer modernen Frisur, sowie ein mit tibetisch-asiatischer Ornamentik verziertes Gewand neben einer Kette aus Kugeln oder Scheibchen.
Die nähere Zuordnung der einzelnen Gegenstände wirft Fragen auf. Die Kette, ist sie eine religiös definierte Gebetskette oder Modeschmuck? Ist die Kittelschürze wirklich eine Kittelschürze? Man stellt sich die schon eingangs thematisierte, ganz grundlegende Frage nach der Bedeutung und der Funktion von Kleidung. Kleidung ist in ihrer Funktion primär als Schutz für den menschlichen Körper vor Witterungseinflüssen, Schutz vor zu viel Sonne oder Kälte, Hitze, Nässe oder vor Verletzungen angelegt worden. Kleidung kann den Menschen der sie trägt auch als eine Person besonderen Ranges oder Wissens ausweisen. Oder es handelt sich um Zeremonialgegenstände die nie kleidungsähnlich getragen wurden, wie das z.B. bei dem keltischen Goldhut zu vermuten ist. Die Kittelschürze wäre demnach der Schutz des Schutzes, Schutz für die Kleidung an sich.
Die Künstlerin Anne Büssow hat in dieser Mappe auf eine spielerische Weise mit der Definition und Abstraktion von bekannten und unbekannten Kleidungsformen Zeichen gesetzt. Zeichen in der spröden Sprache des schlichten schwarz-weiß Holzschnitts. Diese reduzierten Zeichen sprechen den Betrachter direkt an und fordern seine Assoziationen heraus, die wiederum Geschichten und neue Bilder entstehen lassen, je nach dem persönlichen Horizont des Schauenden. So kann man sich mit Anne Büssows Kleidungsausschnitten auf eine individuelle Reise durch fremde Kulturen und längst vergangene Zeiten begeben.

 

Catharina Geiselhart

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